Eisenstein und der Tonfilm

Sergei Eisensteins Forscherfreude und sein Mut zum Experimentieren zeigten sich nicht nur in seiner Pionierarbeit in der Filmmontage, sondern auch in seinen theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen mit dem Tonfilm. Mit dem 1927 erschienenen Hollywoodfilm „The Jazz Singer“ wurde der Ton endgültig in die Filmpraxis integriert. Aus dem sogenannten „Stummfilm“ wurde ein klingender und sprechender Film – damals umgangssprachlich auch als „Talkie“ bezeichnet.

 

Der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm stellte für alle Filmschaffenden einen großen Einschnitt in die bis dahin gängigen Filmpraxis und -theorie dar. Für die einen bedeutete die Einführung der Tons die langersehnte Möglichkeit, den Ton synchron zum Bild aufzuzeichnen und somit auf naturalistische Weise das gesprochene Wort der Schauspieler zusammen mit ihren Bewegungen, Gestik und Mimik darzustellen. Für die anderen – darunter auch Eisenstein – rief die synchrone Aufzeichnung des Tons mit dem Bild große Bedenken hervor, die bisherigen Errungenschaften der Filmkunst (insbesondere der Montagetechnik) würden durch die Fokussierung das gesprochene Wort vernichtet werden und aus der Stummfilmkunst „abgefilmtes Theater“ machen – wie das Wort „Talkie“ suggerierte.

 

In seinem nicht nur in der akademischen Welt berühmten Manifest zum Tonfilm, spricht sich Eisenstein 1928 mit Pudovkin und Alexandrov deshalb für eine dezidiert asynchrone Verwendung des Tons aus. Dazu führt er den aus der Musiktheorie übernommenen Begriff des Kontrapunktes ein. Der Ton sollte nicht einfach dem Bild „angeklebt“ werden und die im Bild vorhandene Sinneinheit verdoppeln. Vielmehr solle der Ton auf asynchrone Weise dem Bild gekoppelt werden und der Bildebene weitere Sinneinheiten hinzufügen. Bild und Ton verhielten sich dabei wie zwei musikalische Stimmen (Stimme und Gegenstimme), die – wie in Eisensteins Montagetheorie – in einer dialektischen Spannung zueinanderstehen. Bei der Rezeption durch den Zuschauer werden sie wieder zu einem sinnvollen Zusammenhang verknüpft, zu einer dritten Bedeutungsebene, die nicht im Ton oder Bild allein angelegt werden kann.

 

Eisensteins experimenteller Umgang mit dem Ton zielte darauf ab, neue Möglichkeiten zu finden, Ton und Bild zu kombinieren – und Ton auch polyphonisch einzusetzen. Die Idee der polyphonische Verwendung des Tons wird von Eisenstein jedoch nicht erst im Manifest vorgestellt. Bereits bei seinen Theaterarbeiten spielte er mit verschiedenen Geräuschen und fing an, sie wie ein musikalisches Stück in rhythmischen Reihenfolgen zu organisieren.

Arbeiten mit synthetischer Musik - Das Theremin

Den kontrapunktischen, experimentellen Einsatz des Tons entwickelt Eisenstein in der Konzeption seiner Filme weiter. In seinem ersten Tonfilm „Romance Sentimentale“ nutzt er wie andere sowjetische Künstler dieser Zeit das neue Lichttonverfahren, um verschiedene Formen direkt per Hand auf die optische Tonspur zu zeichnen. Dadurch entstanden seltsam quietschende Kreischlaute, die er mit anderen Geräusche und gebrochene Orchesterphrasen antithetisch zur sentimentalen Anfangssequenz des Films montiert, um den Zuschauer regelrecht zu bombardieren.

 

In der Konzeption seines Films „Die Generallinie“ entwickelt er ein System von verschiedenen Ton-Typen, die auf experimentelle Art zusammengebracht werden sollten. Neben symphonischer und folkloristischer Musik, montierten Geräuschen und gezeichneten Tönen sollte auch elektronische Musik zum Einsatz kommen. Eisensteins Idee, mit synthetischer Musik zu arbeiten, entstand, als er das von seinem Zeitgenossen Leon Theremin entwickelte erste elektronische Instrument der Welt sah – den Theremin. Die synthetischen Töne des Theremins verstand Eisenstein gewissermaßen als „Töne der Zukunft“

Die Musik zur Generallinie konnte von Eisenstein nicht realisiert werden. Daher ist die genaue Zuordnung der musikalischen Details nur begrenzt möglich. Es ist anzunehmen, dass Eisenstein den Theremin für die Sequenzen des Films einsetzen wollte, die mit der Idee der Utopie verbunden sind. Eine davon von ist die Traumsequenz der Hauptfigur Marfa, die von einer besseren Zukunft träumt.

Unsere Web-Theremin-Anwendung

Inspiriert von Eisensteins Experimentierfreude und seiner Idee der Ton- Montage haben wir ein virtuelles Theremin entwickelt, das zu der oben genannten Szene aus „Die Generallinie“ in unserer Anwendung gespielt werden kann. Das Web-Theremin ist ein erster Prototyp für unseren VR –Theremin. Sie wurde als hybride Anwendung für das Web umgesetzt.